„Blechbratsche“ und Sonnenuntergang
Prof. Marie-Luise Neunecker (Hochschule für Musik "Hanns Eisler" Berlin)
Nach der großartigen Würdigung des Horns im Rahmen der Berliner Festspiele 2014 nun „das Jahr des Horn“. Eine wunderbare Idee des Landesmusikrates Berlin, der Bratsche die „Blechbratsche“, laut Paul Hindemith, folgen zu lassen. Dies war von ihm sicher nicht abfällig gemeint. Ganz im Gegenteil! Spielte er doch selbst neben der Viola auch das Horn, dessen sonorer Klang es ihm angetan hatte. Auch Johannes Brahms war Hornist aus Leidenschaft und nannte das Instrument gar „die Seele des Orchesters“. Mit die schönsten Hornsoli stammen aus seiner Feder.
Was ist dran an dem legendären Hornklang, dass sowohl in der Musik als auch in der Literatur das Horn als Metapher für romantische Ideale und als Sehnsuchtsmotiv immer wieder auftaucht?
Paul Hindemith vertonte in seinem Hornkonzert einen eigenen Text, der in poetischen Worten den Ruf des Hornes beschreibt:
„Mein Rufen wandelt in herbstgetönten Hain den Saal.
Das Eben in Verschollnes,
Dich in Gewand und Brauch der Ahnen,
In ihr Verlangen und Empfahn dein Glück.
Gönn teuren Schemen Urständ,
Dir Halbvergessener Gemeinschaft,
Und mir mein tongestaltnes Sehnen.“
Seine Herkunft als Signalinstrument kann das Horn nicht verleugnen. Viele musikalische Motive erinnern an Jagdmotive. Mit dem wieder zu Ehren gekommenen Naturhorn entwickelt sich das Signalinstrument dank Stopftechnik der rechten Hand zu einem weich und warm klingenden, vollwertigen Musikinstrument.
Die heutigen Instrumente sind größer im Klang, um den Anforderungen der Säle gerecht zu werden. Doch bleibt nach wie vor die Klangschönheit im Vordergrund. Das Horn ist in der Lage, die ganze Palette emotionaler Empfindungen widerzuspiegeln. Von heroisch bis empfindsam ist der Klang extrem wandlungsfähig. Kaum ein Instrument hat solch einen Lagenumfang von vier Oktaven und eine dynamische Bandbreite vom extremen pp bis zum Schmetterklang im ff.
Hornisten sind in der Regel gesellige und verträgliche Menschen, die sensibel in der Gruppe agieren müssen. Zudem sind sie risikofreudige und optimistische Typen, die sich den systembedingten Gefahren des Hornes – deshalb auch Glücksspirale genannt – mit Tapferkeit stellen und ihr Instrument trotzdem lieben. Die „Kiekser“ – in Wien etwas charmanter „Gagerl“ genannt, sind besonders bei Dirigenten nicht sonderlich beliebt, aber trotz allen Bemühens nach wie vor unvermeidlich. Deshalb bleiben Hornisten im Regelfall bodenständig und bescheiden, da es jeden trifft!
Das Jahr des Hornes wird Ihnen vielfältige Gelegenheit bieten, diesen sympathischen Musikertypus kennenzulernen und auch zu entdecken, wie unterschiedlich jeder einzelne klingt. Ich freue mich besonders, dass die doch weitgehend unbekannte Literatur durch vielfältige Projekte Beachtung finden wird.
Ich wünsche allen Beteiligten viel Freude bei einer spannenden Entdeckungsreise und neue Erfahrungen mit einem Instrument, das als Grenzgänger klanglich mal als Holzbläser, mal als Blechbläser und eben auch manchmal wie eine Blechbratsche sich flexibel anpasst und zu rechter Zeit sich goldgelb wie ein Sonnenuntergang über das Orchester ausbreitet.
Die Hornistin Marie-Luise Neunecker gilt als eine der profiliertesten Instrumentalistinnen der Gegenwart, erhält regelmäßig Einladungen zu den großen Musikfestivals und ist als Solistin wie als Kammermusikerin äußerst gefragt. So schrieb die Berliner Morgenpost: "die wahrhaft königliche Marie-Luise Neunecker spielt Horn mit einer melodischen Grazie und mühelosen, beweglichen Bögen, von denen andere Hornisten nur träumen können". Während ihrer Tätigkeit als Solohornistin der Bamberger Symphoniker und des RSO Frankfurt von 1979 bis 1989 machte sie als Preisträgerin mehrerer renommierter internationaler Wettbewerbe auf sich aufmerksam; auch mit dem Gewandhausorchester Leipzig und den Wiener Philharmonikern hat sie zusammengearbeitet. Heute ist sie weltweit mit herausragendem Erfolg tätig und tritt in den bedeutendsten Konzertsälen auf. György Ligeti schrieb für Marie-Luise Neunecker sein Hornkonzert "Hamburgisches Konzert", das sie im Januar 2001 zur Uraufführung brachte. Mit zahlreichen CD-Aufnahmen, die mit Preisen wie dem ECHO Klassik und dem Grammophone Award ausgezeichnet wurden, hat die Hornistin erheblich zur größeren Bekanntheit der Literatur ihres Instruments aus verschiedensten Epochen beigetragen.